Die Inseln - Leseprobe


Leseprobe 1:

Da wurde er aus seinen Gedanken aufgeschreckt, ein neuer Gast war hereingekommen, ein Gesicht, das er noch nicht kannte. Der Neue war groß, sicher deutlich über Einsachtzig, mit schulterlangen, schütteren Haaren die von blond bis grau changierten und einem dichten grauen Vollbart. Und dann dieses Gesicht, wettergegerbt, von tiefen Furchen durchzogen. Und es strahlte eine Melancholie aus, die man schier mit Händen greifen konnte. Gekleidet war er mit einer ausgewaschenen Jeans über dicken Stiefeln und einem großkarierten Hemd in Braun- und Rottönen. Auf dem Rücken trug er eine Art Sack, eine Schutzhülle, eine Gitarre wahrscheinlich. Er schaute sich kurz um, blieb einen Moment mit seinem Blick an Martin hängen, nickte Pete zu und ging zu einem kleinen Tisch an einem der Fenster, ziemlich genau diagonal gegenüber von Martins Sitzplatz. Er entledigte sich seiner Rückenlast, die er an die Wand lehnte und ließ sich dann auf einem Stuhl nieder.
Martin überlegte, wie alt der Neue wohl sein mochte. Er würde ihn auf Mitte Sechzig schätzen, eher älter. Auf jeden Fall war es der interessanteste Typ, den er bisher hier gesehen hatte. Pete war zwar ein Original, aber der andere strahlte etwas aus, eine interessante Lebensgeschichte, da hätte Martin drauf gewettet.
Immer wieder erwischte er sich, wie er den Neuen beobachtete. Der wiederum saß einfach da, trank nichts und schien zu meditieren. Warum fragte Pete ihn nicht nach seinen Wünschen, sie schienen sich doch zu kennen. Vielleicht gerade deshalb ?
„Hey Mike, spiel uns des Lied, mer wolle e bische träume !“, rief da einer der Gäste dem Neuen zu.
„Geht nicht Geoff, du weißt doch, so trocken bekomme ich keinen Ton heraus.“
„OK ! Pete, zapf dem alte Mike mal e Pint uff mei Rechnung, damit er sei Stimm öle kann.“
Das schien so eine Art eingeübtes Ritual zu sein, denn sofort fing Pete an zu zapfen, der alte Mike packte seine Gitarre aus, holte noch eine Mundharmonika mit Gestell aus der Hülle, während die Gespräche im Schankraum nach und nach verstummten. Als das Bier vor ihm stand, nahm Mike erst einmal einen gigantischen Schluck, der das Glas beinahe leerte, setzte das Mundharmonika-Gestell auf, griff die Gitarre und fing an zu spielen.
Er spielte nicht laut und auch seine Stimme war nicht durchdringend. Aber er sang so deutlich, dass Martin fast jedes Wort verstand, denn im Schankraum war es von einer Sekunde auf die andere mucksmäuschenstill.
Er sang ein Lied von verzauberten Inseln, die irgendwo da draußen im Meer lagen. Dort wurden alle Wünsche wahr. Jeder konnte dorthin gelangen, er musste nur ganz intensiv mit seinem Herzen suchen. Es war aber auch gefährlich diese Reise anzutreten, denn wessen Herz nicht rein war, der war für immer dort gefangen und verdammt.
Die Melodie hüllte ihn ein, drang in sein Herz, füllte seine Augen mit Tränen. Noch nie hatte ein Lied ihn so berührt und als der alte Mike geendet hatte, blieb eine leere Stelle in ihm, wo eben noch das Lied war.

 

Leseprobe 2:

Unten am Strand stand Martin und sah zur Höhle hinauf, zu Dragons Lair.

Im Höhleneingang erschien ein riesiger Drachen, schritt zum Rande des Plateaus und streckte seine gewaltigen Flügel. Erschreckend war er in der Präsenz seiner Kraft und Macht, aber gleichzeitig von einer berauschenden Ästhetik. Seine Schuppen schillerten in allen Farben, Muster bildend, die er von alten keltischen Abbildungen kannte.

Mit elegantem Schwung hob der Drache ab vom Plateau. Ihn in der Luft zu sehen war ein Erlebnis ohne gleichen. Wenn der Begriff ‚Herrscher der Lüfte‘ auf etwas zutraf, dann auf dieses Wesen. Mit wenigen Flügelschlägen hatte er sich in die Höhe geschraubt, als wolle er sich einen Überblick verschaffen.

Klein wie ein Spielzeug kreiste er da oben, ohne dabei etwas von seiner machtvollen Ausstrahlung zu verlieren.

Jetzt kippte er über einen Flügel ab und schoss wie ein Pfeil nach unten, direkt auf Martin zu. Merkwürdigerweise spürte der dabei keine Spur von Angst. Mit einem kurzen Ausbreiten der Flügel stoppte der Drache ab und landete sanft am Strand, direkt vor Martin.

Der gewaltige Kopf beugte sich herab und die goldenen Augen fixierten ihn. Diese Augen schauten direkt in Martins Seele, direkt in sein Herz.
Minutenlang standen sie sich so gegenüber und dann geschah etwas Merkwürdiges.

Der Hals des Drachens streckte sich und für den Bruchteil einer Sekunde legte er seinen Kopf an Martins Wange. Dann, als sei er selbst erschrocken darüber, zuckte der Drache zurück, schwang sich in die Lüfte und verschwand im Nebel vor dem Kap.

Martin schoss aus dem Schlaf hoch, saß senkrecht im Bett, fasste mit der Hand an seine Wange, spürte immer noch die zarte Berührung des Drachens.

Hatte er das wirklich geträumt?