Autoren_Netzwerk Geschichte des Tages vom 8.4.2016

Begegnung
Peter Caprano

Ich bin auf dem Weg nach Hause. Ein langer Abend liegt hinter mir, Vorstandssitzung im Verein bis nach Mitternacht. Da ich mich auf den Bus verlassen habe, der jetzt nicht mehr fährt, hatte ich die Wahl zwischen Taxi oder Laufen. Um den Kopf etwas auszulüften, entschied ich mich für Laufen. Das war die richtige Entscheidung, denn die frische Luft tut gut.
Beim Abbiegen in die Otto-Straße bemerke ich zum ersten Mal die Gestalt hinter mir. Ein dunkler Schemen, der mir folgt. An der Ecke von der Otto- in die Markt-Straße werfe ich wieder einen unauffälligen Blick nach hinten. Der Verfolger ist immer noch da. Etwa meine Größe, die Kapuze der Sweater-Jacke tief ins Gesicht gezogen, schlurfender Schritt in flatternden Hosen. Wahrscheinlich ein Mann, sicher bin ich aber nicht. Das ist schon eine verdächtige Gestalt, doch merkwürdigerweise fühle ich mich nicht bedroht. Ich beschließe, die Probe zu machen, und gehe einmal ums Karree. Die Gestalt folgt mir immer noch, weiterhin im selben Abstand. Was will er von mir? Das werde ich herausfinden!
Wieder biege ich in die Markt-Straße ein, warte aber direkt hinter der Ecke auf meinen Verfolger. Erst höre ich das Kratzen der Schuhe, die er beim Laufen nicht richtig anhebt, und dann steht er vor mir. Er wirkt nicht überrascht oder gar erschrocken, sondern lacht ein krächzendes Lachen und sieht mir offen ins Gesicht. Was für ein Gesicht! Zerfurcht wie eine Kraterlandschaft, die Haut und selbst die Lippen grau und matt. Nur die Augen leuchten in kräftigem Blau.
»Wer sind Sie?«, frage ich und ernte wieder nur dieses rauhe, kehlige Lachen.
»Wer sind Sie und was wollen Sie von mir?«
Ganz ruhig sieht er mich eine Weile an – dann beginnt er zu reden.
»Ich bin dein Wunsch, Heinzelmann!«
Nun bin ich total verwirrt, denn er kennt sogar meinen Namen und benutzt die Koseform wie sonst nur meine Verwandten oder guten Freunde.
»Ich bin dein Wunsch, Heinzelmann, dein großer, sehnlicher Wunsch!« Und dazu schüttelt ihn wieder dieses kaputte Lachen, als habe er einen unglaublich tollen Witz gemacht.
»Sie können nicht mein Wunsch sein! So etwas wie Sie, habe ich mir nie und nimmer gewünscht!«
»Oh doch!«, beharrt er und beginnt zu erzählen. Erzählt von dem Abend, als unsere ganze Clique zusammen saß und das Gespräch auf Lebenswünsche kam. Die tollsten Wünsche wurden geäußert: Erfolg, Gesundheit, Reichtum, Liebe und vieles mehr. Dann kam die Reihe an mich, und ich wollte cool sein und herausstechen. Ich sagte, dass ich mir nur wünschte, hundert-sechzig Jahre alt zu werden, dann würde sich der Rest von selbst ergeben. Sie lachten mich aus, meinten, das sei total verrückt, doch ich beharrte darauf, wollte keinen Rückzieher machen.
»Und hier bin ich jetzt, bist du, denn ich bin du mit hundert-zweiundvierzig« Und plötzlich ist sein Gesicht nur tieftraurig.
»Du hast ja keine Ahnung, was du dir da gewünscht hast!«
Und er erzählt von seinem, meinem zukünftigen Leben. Er lebe total allein. Seine Kinder und Enkel seien alle tot. Selbst seine Urenkel hätten bereits fast alle das Zeitliche gesegnet. Staatliche Rente gäbe es längst nicht mehr, und er finanziere sich durch Betteln. Das ginge allerdings ganz gut, denn sein Aussehen ließe die Leute bereitwillig spenden. Viele Jahre lebe er nun schon auf der Straße, denn eine Wohnung wolle ihm niemand mehr vermieten. Die anderen Obdachlosen mieden ihn, wegen seines Alters sei er ihnen unheimlich. Einzig die periodischen Übernachtungen im Asyl mit Bett und Dusche wären ein Höhepunkt. Achtzehn Jahre müsse er das noch ertragen, achtzehn lange Jahre.
»Du hast ja keine Ahnung, was du dir da gewünscht hast!«
Wieder dieses Lachen, das mir jetzt einen Schauder über den Rücken jagt. Dann dreht er sich um und schlurft davon.
Doch plötzlich bleibt er noch einmal stehen, schaut mich lächelnd an und sagt: »Denk noch einmal darüber nach, Heinzelmann! Wünsche kann man ändern!«